Antichrist. Eschatologische Feindtypisierungen und –identifizierungen

Antichrist. Eschatologische Feindtypisierungen und –identifizierungen

Organisatoren
Wolfram Brandes; Felicitas Schmieder
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2007 - 27.09.2007
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Von
Felicitas Schmieder, Historisches Institut der FernUniversität in Hagen; Wolfram Brandes, Max Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main

Die Tagung verstand sich als Vertiefung und Fortsetzung des Kolloquiums über „Endzeiten – politische und gesellschaftliche Implikationen universaleschatologischer Vorstellungen in den drei monotheistischen Weltreligionen (5. bis 16. Jahrhundert)“, das mit Förderung der Thyssen-Stiftung im April 2005 in Frankfurt am Main stattfand (der Tagungsband erscheint Anfang 2008). Damals hatte sich herauskristallisiert, dass sich der Antichrist und vergleichbare Figuren, Helfer oder auch Vorläufer gut zum interreligiösen Vergleich eignen. Jener Vergleich gehörte auch jetzt zu den zentralen Anliegen – er unterscheidet sich maßgeblich von Forschungen über Eschatologie und speziellen Antichristvorstellungen, die in jüngster Zeit mehr als früher unternommen werden. Wieder konnte deutlich werden, wie sehr Motive sich ähneln, wie stark die Einzelkulturen religionsübergreifend aufeinander reagieren und sich aneinander abarbeiten und in welchem Maße hier gegenseitige Beeinflussung der Vorstellungen über die Kulturgrenzen hinweg und auch über die schlichte Inversion hinweg (in dem Sinne, dass der einen Antichrist der Messias der anderen sei und umgekehrt) möglich war. Gerade die Zeichnung der eigenen positiven Heilsgestalten in Auseinandersetzung mit ihren Negationen beim Nachbarn bietet ein spannendes Forschungsfeld: Oft genug musste akzeptiert werden, dass über die Möglichkeit hinaus, dass ähnliche Ideen auch unabhängig voneinander in grundsätzlich ähnlichen Kontexten (nämlich einem göttlich vorbestimmten Ende der Welt) entstehen können, die Erklärung von gegenseitiger negativer wie positiver Beeinflussung nahe lag – und dies schien deutlich einen Kulturkontakt zu zeigen, der in ungewolltem, aber damit umso stärkerem kulturellem Lernen resultierte.

Unter diesen Aspekt wurden folgende Leitfragen gestellt: Welcher Böse ist am Ende der Zeiten zu erwarten, was tut er (oder sie?) und was wird dagegen unternommen? Wie kündigt er sich an, wem gleicht er und wer unterstützt ihn absichtlich oder gezwungenermaßen – wie gewinnt er Anhänger? Schließlich, auch das in Aufnahme der Gedanken der ersten Tagung: Wer konnte zu verschiedenen Zeiten mit ihm identifiziert werden, wie wurde er erkannt und welche Konsequenzen hatte das? Es boten sich zahlreiche Ansatzpunkte an. In Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche (Investiturstreit, byzantinischer Bilderstreit, Kreuzzüge, Pest, Reformationen – bis hin zu Napoleon oder dem 1. Weltkrieg), so ließ sich ohne Übertreibung feststellen, wurde mit Regelmäßigkeit die Antichristproblematik aufgegriffen. Die Diffamierung von Gegnern als antichristi, praecursores setzte eine Wirksamkeit (d.h. eine allgegenwärtige Bekanntheit der Figur des Antichrist) voraus, die auch in „ruhigeren“ Zeitabschnitten und das in den verschiedenen monotheistischen Religionen gegeben war, deren Eschatologien Gegenstand der Tagung waren. Die Antichristproblematik war von erheblicher Bedeutung in interreligiösen Auseinandersetzungen, nicht nur im Sinne einer gegenseitigen Diffamierung. Da die bisherige Forschung sich entweder auf die Entstehung und die geistesgeschichtlichen Hintergründe der Figur des Antichrist konzentrierte, oder die historische Detailforschung die Brisanz und Bedeutung einer Antichristsemantik fast immer ignorierte oder gar leugnete, war es an der Zeit, sich fächer- und zeitübergreifend dieser Problematik anzunehmen.

MARCO RIZZI (Mailand) beleuchtete auf dem Hintergrund der allmählichen Ablösung westlicher und östlicher Traditionen im geteilten Römischen Reich zwischen Spätantike und frühem Mittelalter die ostchristlichen Antichristvorstellungen. Antichrist, Teufel und eine ganze Genealogie von häretischen Propheten bildeten das Figurenreservoir aus, in dem sich, jeweils unter dem Eindruck äußerer Gefahren, das eschatologische Szenario entwickelte. Im Osten und in Zeiten der Umwälzung bewegte sich auch der Vortrag von LUTZ GREISIGER (Leipzig). Zeugnisse jüdisch-christlicher Auseinandersetzung um die Identifikation des Antichristen im 7. Jahrhundert“, im abwechselnd unter byzantinischer, sasanidischer, arabischer Herrschaft und sogar kurzzeitig unter jüdischer Selbstverwaltung stehenden Jerusalem. Er konnte zeigen, wie sich in eschatologisch fruchtbarer Zeit die jüdische wie christliche Naherwartung bei der Identifikation des jeweiligen Antimessias der Gedankenwelt der gegnerischen Seite bediente. Auch REBEKKA VOSS (Düsseldorf) konnte, in ganz anderen Zeiten und Räumen, derartige gegenseitige Beeinflussung verdeutlichen. Sie betrachtete gegenseitige eschatologische Feindbilder unter Konzentration auf die Figur des „Endechrist“ (Antichrist oder „Ende der Christen“) von Christen und Juden im Reich der erweiterten Reformationszeit. Zurück in den byzantinischen Bereich, in dessen süditalienische Peripherie, führte LARS HOFFMANN (Mainz). In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts befand sich das Griechentum der Region in grundsätzlich „hirtenloser“ Bedrängnis und wandte seine eschatologischen Gedanken auf die feindlichen lateinischen Brüder. SABINE SCHMOLINSKY (Hamburg) gab einen Überblick über die Traditionen, die während des Mittelalters die jüdischen Züge des Antichrists hervortreten ließen. Der jüngsten eschatologischen Konstruktion in den Weltreligionen wandte sich HANNES MÖHRING (Tübingen) zu: Auch die Muslime fokussierten den Gegensatz der endgültigen Opposition von Gut und Böse, von Mahdi und Dadjdjal, wobei sich die Gestalt des Sufyani zwischen den kalifischen Parteiungen des 7./ 8. Jahrhunderts von einer negativen zu einer hoffnungsvollen Gestalt wandelte. Im muslimischen Traditionsrahmen, mit räumlicher Ausbreitung von der Iberischen Halbinsel bis zum Irak, zeitlich vom 10. zum 14. Jahrhundert (christlicher Zeitrechnung), geistesgeschichtlich im Sufismus, bewegte sich der Vortrag von ANNA AKASOY (London). Anhand einer detaillierten Untersuchung bisher unedierter Textzeugnisse spürte sie den möglichen Mahdi-Ansprüchen ihres Protagonisten Niffari nach. Wieder im muslimischen Vorderen Orient und im 12./ 13. Jahrhundert, doch nun aus christlicher Sicht auf den großen muslimischen Helden Saladin bezogen, konnte DIRK JÄCKEL (Hagen) zeigen, wie jener schon früh in der englischen Propaganda für den Dritten Kreuzzug als Antichrist instrumentalisiert wurde, um konkurrierende Kreuzfahrer zu diskreditieren und die Antichrist-Figur zu multiplizieren. Zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert angesiedelt waren die Überlegungen von KLAUS RIDDER und ULRICH BARTON (Tübingen) über die wechselnde Gestaltung der „Antichrist-Figur im mittelalterlichen Schauspiel“. An Beispielen vom „Ludus de Antichristo“ über Hans Folz und „Des Endkrist Vasnacht“ bis zum „Pammachius des Naogeorgus“ verfolgten sie das Spiel mit der Vergegenwärtigung des Bösen, das die irritierenderweise häufig offen, ohne klaren Sieg des Guten, endete. Auch in der Bilderwelt des 15./ 16. Jahrhunderts waren Gut und Böse nicht unbedingt säuberlich voneinander getrennt. Im (Kreuzzugs-)Kontext der vorrückenden Osmanen konnte ALBERTO SAVIELLO (Florenz) anhand kunstgeschichtlicher Zeugnisse zeigen, wie sich im Rahmen vielfacher und keineswegs stets unfreundlicher „Türkenbilder“ zunehmend ein eschatologisches Feindbild herausbildete. In derselben Zeit bewegte sich JOHANNES HEIL (Heidelberg), als er sich der Bedeutung der Antichrist-Identifikation des Papsttums für Martin Luthers Geschichtsbild annahm. Dabei fällt auf, dass Luther hier umfassend und recht kritiklos auf vorreformatorische Traditionen zurückgreift. Der katholischen Seite des eschatologischen Reformationsdiskurses kurz vor 1600 wandte sich RALF-PETER FUCHS (München) zu. Dabei wird deutlich, wie sich Dietrich Graminaeus ebenso mit den lutherischen antipäpstlichen Vorstellungen auseinander setzte wie er auch eigene Feindbilder im eschatologischen Kontext fruchtbar machte und so Glaubenskampf und Hexenverfolgung ineinander flossen. Mit den beiden letzten Vorträgen schließlich wurde nach Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit das 19./ 20. Jahrhundert erreicht. HUBERTUS BUSCHES (Hagen) Vortrag handelte von „Nietzsches „Antichrist“. Er stellte aus dem Spätwerk Nietzsches, das dieser kurz bevor er dem Wahnsinn verfiel abschloss, den Traditionshintergrund der Antichristfigur im Kontext der Vorstellung eines bereits durch die Apostel verfälschten wahren Christentums vor. MICHAEL HAGEMEISTER (Basel) beleuchtete u.a. die Wirkungen des Sergej Nilus bis heute – nicht zuletzt in Verbindung mit den berüchtigten „Protokollen der Weisen von Zion“ – in ihrem russischen Entstehungs- und Rezeptionskontext um 1900, in den 1920er-Jahren und erneut heutzutage.

Die Tagung war ebenso wie die letzte gezielt nicht nur transdisziplinär angelegt, sondern polykulturell in dem Sinne, dass die drei großen monotheistischen Religionen in den vergleichenden Blick kommen sollten in möglichst allen Einzelkulturen, die sie ausgebildet haben. Der Antichrist trat in den vorgeführten Beispielen in sehr unterschiedlichen Gestalten auf, fast könnte man sagen, dass zahlreiche Antichriste vorfindbar sind – nicht nur dann, wenn bereits die jeweiligen Zeitgenossen die Figur multipliziert hatten und mehrere Antichriste, oft eine ganze Genealogie von ihnen ins endzeitliche Szenario eingeschrieben wurde. Schon das Neue Testament kennt nicht nur den Antichrist, sondern kann auch von deren mehreren sprechen.

Damit zu einer weiteren verwirrenden Erkenntnis: Bei all den Wandlungen der Einzelvorstellungen und Bilder entwickelte sich innerhalb aller eschatologisch denkender Kulturen ein Reservoir von Interpretationsvorschlägen, Ergänzungen, Neuformulierungen, aus dem Spätere schöpfen konnten – und von dem man sich fragen muss, ob sämtliche Elemente vollkommen frei kombinierbar waren oder ob dem Grenzen gesetzt waren. Angesichts dessen darf man fragen: Gab es einen kanonischen Grund- oder Restbestand an Bildern, an den nicht gerührt werden konnte? Gab es Dinge, die man mit Antichrist keinesfalls verbinden konnte? Unterscheiden sich die groß- und binnenkulturellen Räume hier eventuell untereinander? Manch eine Frage musste offen bleiben: So die nach der Erkennbarkeit des Antichrist. Wird er mit bestimmten physiognomischen Merkmalen beschrieben, hat er bestimmte Eigenschaften – wie stellt man ihn bildlich dar, bedenkt man die urchristliche Tradition, wonach er eben nicht so einfach erkannt werden kann, wenn er auftritt und alle, sogar die Gerechten, zu täuschen vermag? Die Frage wurde aufgeworfen, inwieweit apokalyptische Vorstellungen in individualeschatologischen Kontexten auftreten – man könnte an den Hymnus vom „Dies irae dies ille“ denken, der universaleschatologische Elemente mit jeder individuellen Totenmesse verbindet – aber so etwas mag es darüber hinaus in den Christentümern ebenso wie in den anderen Religionen und ihren unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen geben. Eine gewiss spannende und intensiv zu untersuchende Frage wäre, inwieweit und in welchen Kontexten eine Art Anti-Apokalyptik im Sinne einer Ablehnung einer bestimmten Art der aktuellen Verwendung von apokalyptischen Elementen aufkommt, und dies wieder im Kulturvergleich.

Eine weitere Tagung zu diesen (und zahlreichen anderen Fragen) wird gegenwärtig geplant. Ihr genaues Thema steht noch nicht fest.

Konferenzübersicht:

Wolfram Brandes: Einführung in die Thematik

Marco Rizzi: The Shadow of the Antichrist in Eastern Christianity Between Late Antiquity and Early Byzantine Age

Lutz Greisiger: Christus (Messias) und Antichrist in jüdischen und christlich-syrischen Apokalypsen des 7. Jahrhunderts

Rebekka Voss (Düsseldorf): Propter seditionis hebraicae: Auswirkungen antisemitischer Apokalyptik auf den jüdischen Messianismus

Lars Hoffmann: Antichrist bei Nikolaos von Otranto: Antijüdische Dialoge in Byzanz

Sabine Schmolinsky: Antijüdische Merkmale in mittelalterlichen Vorstellungen vom Antichrist

Hannes Möhring: Der Sufyani. Vom Vorläufer des Dadjdjal (Antichrist) zum Vorläufer des Mahdi

Anna Akasoy: Niffari: a Sufi Mahdi in the Fourth c. AH/ Tenth c. AD?

Dirk Jäckel: Saladin und Antichrist. Das andere Bild vom Ayyubidensultan

Alberto Saviello: Der Wolf im Wolfspelz? – Strategien der Verteufelung des Osmanischen Feindes in bildender Kunst und Literatur an der Wende zum 16. Jahrhundert

Johannes Heil: Die Antichrist- und Feindschafts-Hierarchie (Papst, Türken, Juden, Schwärmer) bei Luther und der Wittenberger Orthodoxie

Ralf-Peter Fuchs: Das Wüten des bösen Feindes. Glaubensgegner, Hexen und der Antichrist in der Welt des Dietrich Graminaeus

Hubertus Busche: Nietzsches „Antichrist“: Fluch auf das Christentum – Annäherung an Christus

Klaus Ridder/ Ulrich Barton: Die Antichrist-Figur im mittelalterlichen Schauspiel

Michael Hagemeister: Trilogie der Apokalypse: Vladimir Solov'ev, Serafim von Sarov und Sergej Nilus über das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschichte

Felicitas Schmieder: Von einem Antichrist zu einer Genealogie von Antichristen. Einführung in die Schlussdiskussion

Kontakt

Prof. Dr. Felicitas Schmieder

Historisches Institut
Fernuniversität in Hagen
+49-(0)2331-987-2120

felicitas.schmieder@fernuni-hagen.de